Tibet Pilzreich

Veröffentlicht in: Mitteilungen der Österreichischen Mykologischen Gesellschaft 177.2, Dez. 2009
und in: Schweizer Zeitschrift für Pilzkunde 2009.6:245-247.
 

Tibet - Pilzreich
Eine Reise zu Raupenpilzen und Krokodilritterlingen
Daniel Winkler

Wer hat nicht die Bilder von Tibets atemberaubenden Landschaften gesehen, seien es sich schier endlos erstreckende Hochweiden, tief eingeschnittene Täler oder vergletscherte Gipfel, in deren Vordergrund Yaks weiden oder weiße Stupas stehen, die den erleuchteten Geist symbolisieren? Und natürlich kennen wir alle die Photos von zahnluckerten lächelnden Tibetergreisen, die in Felljacken gehüllt der Kälte trotzend ihre Gebetsmühlen ewig kreisen lassen oder von rotberobten Mönchen, deren Mangel an Haartracht auf Überfluss an Weisheit hoffen lässt.

Aber wer kennt schon das pilzreiche Tibet? Die Geschichte tibetischer Reiche erstreckt sich in graue Vorzeiten zurück wie historische Aufzeichnungen der königlichen Thronfolgen belegen. Sicher reicht auch der Pilzgenuss weit zurück, ist er doch über den ganzen tibetischen Kulturraum weit verbreitet. Viel später dann, im 15. Jahrhundert, finden sich erste Aufzeichnungen zur medizinischen Verwendung des tibetischen Raupenpilzes, Cordyceps sinensis, der in Tibet als "Yartsa Günbu'', zu deutsch "Sommergras-Winterwurm", bekannt ist.

Während der Raupenpilzsaison passt sich das gesamte Leben der Tibeter ganz der Sammeltätigkeit an, da die Chinesen bereit sind unglaubliche Preise für diesen Medizinpilz zu zahlen, was sich in einem Kilogrammpreis von 6000 bis 12000 € in Tibet und bis zu über 20000 € in China selber widerspiegelt. Jeder, der noch laufen kann, ist, um ein Bareinkommen für das ganze Jahr sicherzustellen, auf den Hochweiden unterwegs, die auch nochmal für einen oder zwei Tage verschneit seien können. Normalerweise aber taut der Schnee dank der intensiven subtropischen Sonne sehr schnell wieder ab. In den besten Sammelgebieten trägt der tibetische Raupenpilz oft 70-90 % zum jährlichen Bareinkommen bei, landesweit in Tibet in etwa 40 % und immerhin fast 10 % zum tibetischen Bruttosozialprodukt (Winkler 2005 & 2008 a).

Vielerorts schließen etliche Geschäfte, und die Schulen machen Ferien, da die Hilfe der scharfäugigen Kinder bei der langwierigen und mühsamen Suche sehr geschätzt wird, um den braunen, bleistiftdicken Fruchtstand, der nur 3 bis 10 cm aus dem Boden ragt, zu finden. Erwachsene suchen oft auf Knien die Hochweiden ab. Um die Sammeltätigkeit zu ermöglichen und auch als Nebenverdienstmöglichkeit werden auf den Hochweiden Versorgungsläden und "Bierzelte" komplett mit Billardtischen eingerichtet, denn die Tibeter wissen wie man die Sammelsaison gemeinsam in vollen Zügen genießen kann. In den Kreisstädten, wo die chinesische Präsenz immer sehr deutlich ist, wird der Raupenpilz überall auf den Straßen getrocknet und gehandelt, und die Tibeter mit prall mit Pilzgeld gefüllten Taschen der neu gekauften bunten Jacken gehen mit der ganzen Familie essen und tätigen Großeinkäufe für das Jahr.

Wenn der oft zögerliche Frühling die tiefen Täler wieder voll zum Leben erweckt hat, sprießen nach Regengüssen auch die Morcheln (Morchella esculenta und andere Arten wie z. B. Morchella crassipes, M. angusticeps und M. conica) und andere Frühlingspilze in den Urwäldern. Die gesammelten Morcheln werden in den Kreisstädten an Fäden getrocknet und fahrenden Händlern zum Kauf angeboten. Ein tibetischer Name für die Morchel ist "Khukhu Shamu", der Kuckuckspilz. Dieser Name leitet sich von der Sammelzeit ab, die mit der Rückkehr des Kuckucks zusammenfällt, der einer der bekanntesten und beliebtesten Singvögel Tibets ist und ein Symbol für die wieder aufsteigenden Säfte in der Natur und die wieder erstarkenden Kräfte im Menschen ist. Sogar ein berühmtes Liebesgedicht des 6. Dalai Lamas handelt vom Kuckuck. Ökonomisch gesehen ist der "Kuckuckspilz" unter den fünf wichtigsten Pilzen Tibets, aber weit abgeschlagen hinter dem tibetischen Raupenpilz und dem Matsutake-Ritterling zu finden. Die Morcheln werden zumeist nach Frankreich, Deutschland, Österreich und in die Schweiz exportiert (Winkler 2007). Auch erwacht zur Morchelzeit die Flora wieder und zahllose Arten von Primeln, Iris, Schaumkräutern, Gloxinien, Edelweiß und auch Pfingstrosen, um nur ein paar zu nennen zieren die Täler. In Wäldern und auf den Weiden fangen die Rhododendren und Seidelbaste zu blühen an.

Tibets Pilzreichtum findet sich in einer Naturlandschaft, die jedem, der die Alpen kennt und liebt, wohlvertraut scheint, zumindest wenn man nicht zu genau hinschaut. Die Vegetationsgesellschaften wie z. B. Tannen- und Fichtenwälder, Föhren- und Eichenwälder, Birken und Pappelbestände, Wacholderwälder und Rhododendrongebüsche lassen kein Heimweh zu, sondern beflügeln die Neugier, da vieles vertraut, aber doch zumeist anders ist. Daß man nicht zu hause unterwegs ist, wird nicht nur durch die Qualität der Straßen schnell deutlich, sondern auch wenn man Tibetern im Wald begegnet, die immer bereit und erfreut sind, sich über Pilze auszutauschen. Und wenn man in Tibet unterwegs ist um sich den Pilzreichtum auf der Zunge zergehen zu lassen, sei es chinesische oder tibetische Küche, darf man natürlich nicht all die Sehenswürdigkeiten auslassen, für die die meisten anderen so weit nach Tibet reisen.

Neben all den Naturerlebnissen muss man sich auch genug Zeit nehmen um sich auf die unvergleichliche Kultur Tibets einzulassen und buddhistische Klöster und Tempel, heilige Quellen, Seen und Berge zu besuchen. Tibets mysteriöse, formenreiche und farbenfrohe Spiritualität, das Herz der tibetischen Kultur, ist allgegenwärtig. Zudem ist man immer ein willkommener Gast - die Neugierde ist beiderseitig - wenn man Bauern in ihren stattlichen, oft dreistöckigen Bauernhäusern oder Nomaden in ihren erstaunlich bescheidenen Zelten besucht, wo man auch immer auf frischen "Yakghurt" hoffen kann, oder auch auf den salzigen tibetischen Buttertee, der aber nicht jedem Westler liegt, allerdings bei einer traditionellen Bewirtung fast unumgänglich ist.

Insgesamt ist die Vielgestaltigkeit der Landschaften, wenn die Reiseroute geschickt gelegt ist, absolut erstaunlich. Tibet bietet eine traumhafte, abwechslungsreiche Landschaft, die geprägt ist von tiefen, fruchtbaren und oft bewirtschafteten Tälern und tiefbewaldeten Hängen, gekrönt von schier unendlichen vergletscherten Gebirgszügen. Eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Höhenregionen, von subtropisch unter 2000 m Höhe bis hochalpin in fast 5000 m kann man an einem oder etlichen Tagen durchkreuzen. Und alle Höhenstufen beherbergen ihre jeweiligen Ökosysteme mit einer einzigartigen Flora, Fauna und Funga.

Die Frühjahrspilzsaison ebbt im Spätjuni ab. Im Juli, mit den ersten Regen des Sommermonsuns, beginnt die eigentliche Pilzsaison (in dieser Beschreibung beschränke ich mich auf die beliebtesten Speisepilze). Zuerst fruchtet der blaßviolette Himalaya Reifpilz (Cortinarius oder Rozites emodensis, s. Winkler 2009) und bald später folgen viele andere Mykorrhizapilze in den Nadel- und Lauburwäldern. Ökonomisch am wichtigsten ist der Krokodil- oder Matsutake-Ritterling (Tricholoma matsutake), dessen Sammlung die ländliche Pilzwirtschaft im Sommer absolut dominiert, wo er immer vergesellschaftet mit Steineichen wächst. Deswegen kennen die Tibeter den Matsutake, was auf japanisch Föhren, bzw. Kiefernpilz heißt, als "Beshing shamu" oder kurz "Besha", den Eichenpilz. Im Verbreitungsgebiet gibt es spezielle Matsutakemärkte, die bis in die Nacht hinein das Frischgut umschlagen, um es möglichst schnell auf den japanischen Markt zu bringen. Manche Orte wurden sogar elektrifiziert nur um Eis zur Kühlung für den zweitägigen Eiltransport zum Flughafen produzieren zu können (Winkler 2008 b).

Auch in rauen Mengen wird der Habichtspilz (zumeist Sarcodon imbricatus) gesammelt, aber da er nur ins chinesische Tiefland exportiert wird, ist er fast nur ein Zehntel im Vergleich zum Matsutake wert. Wertvoller ist ein tibetischer Kaiserling (Amanita hemibapha) der in warm-temperierten Gebieten verbreitet ist. Auch in den Märkten finden sich viele Röhrlingsarten einschließlich Steinpilz (Boletus edulis), Schusterpilze (B. erythropus und andere) und viele andere Boletus-Arten, aber auch zahlreiche Rotkappen und Birkenpilze (Leccinum spp.). Bei den Leistlingen dominieren die Pfifferlinge (Cantharellus cibarius und C. minor), aber hin und wieder werden auch Schweinsohren (Gomphus clavatus) gehandelt. Unter den Blätterpilzen finden sich noch andere, wie etliche Ritterlinge (Tricholoma zangii u. a.), der Wurzelmöhrling (Catathelasma imperiale), Täublinge (Russula cyanoxantha, R.nigricans u. a,) und auch Lacktrichterlinge (Laccaria laccata). Auf den ausgedehnten Hochweiden wächst "Ser Sha", der "Goldene Pilz" (Floccularia luteovirens), ein wohlschmeckender Verwandter des Hallimasches und etliche Champignon-Arten (z. B. Agaricus campestris). Im Sommer blühen dazu Unmengen von Wildpflanzen, wie etwa Rittersporne, Eisenhüte, Lilien, Waldreben, Cremanthodium, Ligularia und Läusekräuter. Der tibetische Sommermonsun, der im September zu Ende geht, lässt sich nicht mit der Intensität des Monsuns im Himalaja vergleichen. Es regnet immer wieder einmal, aber ein blauer Himmel ist keine Rarität im Sommer und die Sonne zeigt sich oft.

Die Vielfalt der Funga und Flora spiegelt sich auch in der Vielfalt der Eindrücke wieder, die jeden Reisenden in Tibet erwarten. Für manche ist die Begegnung mit dem tibetischen Buddhismus, sei es dessen Philosophie oder seine Kulturdenkmäler, tief bewegend, andere beschäftigen sich mehr mit der faszinierenden traditionellen Lebensweise der Bauern und Nomaden, einer Landbevölkerung, deren Lebensweise stetig im Umbruch ist durch Sinisierung und Modernisierung, wobei das Einkommen aus der Pilzindustrie eine sehr wesentliche Rolle spielt. Und so ist es ein Kinderspiel wunderschöne Reisebilder zu machen, mit deren Hilfe sich so ein einzigartiges Erlebnis noch auf Jahre genießen lässt und unbestimmte Pilze oder Blüten einen noch auf Jahre beschäftigen können.


Literatur:
Winkler, D. 2005: Yartsa Gunbu - Cordyceps sinensis. Economy, Ecology & Ethno-mycology of a Fungus Endemic to the Tibetan Plateau. In: A.Boesi & F. Cardi (eds.). Wildlife and plants in traditional and modern Tibet: Conceptions, Exploitation and Conservation. Memorie della Società Italiana di Scienze Naturali e del Museo Civico di Storia Naturale di Milano, Vol. 33.1:69-85
2007: The Return of the Cuckoo or Morels in Tibet. - In: Mushroom - The Journal of Wild Mushrooming 97, vol. 25.4:5-8.
- 2008 a: Yartsa Gunbu (Cordyceps sinensis) and the fungal commodification of Tibet's rural economy. - Economic Botany 62.3: 291-305. (eine pdf-Kopie kann per Email angefordert werden)
2008 b: The Mushrooming Fungi Market in Tibet exemplified by Cordyceps sinensis and Tricholoma matsutake. - J. International Association for Tibetan Studies (JIATS) 4: 1-47.
- 2009: Tales of the Himalayan Gypsy - Wandering between Rozites and Cortinarius emodensis. - The Journal on Wild Mushrooms vol. 27.1, p.33-40.

 Link zu einem neuen Aufsatz (Tintling 68: S. 19-30) speziell zu Matsutake Ritterlingen in Tibet mit Bildern

Zum Autor:
Daniel Winkler arbeitet seit 25 Jahren an Umweltfragen in Tibet. Er ist in München aufgewachsen, sammelt Schwammerl seit frühster Kindheit und ist Diplom Geograph. Seit 1985 ist Daniel über 30-mal in Tibet und im Himalaya gewesen, zumeist um in Umwelt- und Entwicklungsprojekten zu arbeiten oder Feldforschung in Sachen Vegetation, Waldwirtschaft, Landnutzung und seit 1999 auch Pilzmärkte und Ethnomykologie durchzuführen. Zudem macht Daniel, der mit Frau und zwei Töchtern (19, 21) in Kirkland, Washington State wohnt, seit 15 Jahren auch Reiseleitungen in Tibet und seit 2006 seine eigenen Mushroaming Pilzreisen.

Reisen in Zukunft:
Auch weiterhin organisiert Daniel Winkler Pilzreisen in Tibet, bei denen aber auch Tibets einzigartige Kultur nicht zu kurz kommen wird.
Netzveröffentlichung 6.11.2009, zuletzt eingepflegt September 2012

Last edited on Mon, December 2, 2013, 7:49 pm